Chopin: Andante spianato et Grande Polonaise, Fantasie, Berceuse, Barcarolle

(Text im Booklet zur CD "Portrait Erik Reischl, Volume 2")

Selbst Musikern ist das Attribut "spianato" meist unbekannt. Es kommt vom italienischen "spianare", was soviel wie "einebnen" oder "glätten" bedeutet. Wir haben es also mit einem "flächigen" Andante zu tun. Das überrascht, findet sich doch trotz der ruhigen Begleitfiguren eine beachtliche Bandbreite an Ausdrucksformen und spannenden Episoden. Es handelt sich hierbei jedoch eher um eine Spannung im Kleinen, Leisen und Ruhigen. Wenn wir "spianato" also mit "schlicht, einfach" übersetzen, so kommen wir der Sache näher, vor allem, wenn wir uns die Entstehung dieses Werkes vor Augen führen. So entstand die Polonaise im Jahr 1830 oder 1831, einer Zeit, in welcher der junge Chopin (zu dieser Zeit gerade 20 Jahre alt) in ganz Europa Erfolge als Virtuose feierte. Das einleitende Andante wurde jedoch erst nachträglich im Jahre 1834 komponiert, nachdem sich Chopin endgültig in Paris niedergelassen hatte. Während die Polonaise gänzlich auf Vitalität, Brillanz, Effekt und Virtuosität angelegt ist - und somit sicherlich den Tiefgang der späteren Werke vermissen läßt -, nimmt sich der Gestus des Andante wesentlich reifer, ja geradezu weise aus. Somit stehen die beiden Teile in einem enormen Kontrast zueinander. Dennoch fügen sie sich erstaunlich harmonisch zu einem Ganzen zusammen.

In seiner ursprünglichen Form ist Chopins Opus 22 eigentlich ein Werk für Klavier und Orchester, wobei die Einleitung vom Klavier allein vorgetragen wird. In dieser Form gelangte das Werk auch am 26. April 1835 in Paris erstmalig zur Aufführung, mit Chopin selbst am Flügel. Der Begleitpart des Orchesters ist jedoch derart skizzenhaft, ja gar obsolet, daß sich das Werk als Solo-Klavierwerk auf den Konzertpodien etabliert hat, wobei der Pianist die wenigen Einwürfe des Orchesters mit übernimmt.

Im folgenden Jahr lernte Chopin Aurora Dupin kennen, als Schriftstellerin besser bekannt unter dem Namen George Sand. Mit ihr zusammen verbrachte Chopin mehr als 10 Jahre, eine Zeit, geprägt von Leidenschaft, aber auch eine Zeit großer Konflikte und Demütigungen. Die 1841 entstandene Fantasie in f-moll, op. 49, erscheint nahezu wie ein Résumé dieses aufreibenden Lebens. Zwar halte ich konkrete autobiographische Bezüge in diesem Werk für übertrieben, jedoch zeichnen die verschiedenen Abschnitte mit ihren jeweiligen Stimmungen das Bild einer komplexen und reifen Persönlichkeit des Verfassers. Kaum ein anderes Werk Chopins bündelt so verschiedene Ausdrucksweisen derart kompakt wie dieses.

Die harmonische Konzeption ist ebenfalls bemerkenswert: Das Werk beginnt mit einem Trauermarsch in f-moll und gelangt über bewegte, verzweifelte und bisweilen stürmische Passagen in As- und Ges-dur sowie stolze heroische und marschähnliche Abschnitte in einen ruhigen, choralartigen Mittelteil (Lento sostenuto) in der außergewöhnlich weit entfernten Tonart H-dur, um schließlich nach einem erneuten Ausbruch nicht, wie üblich in f-moll, sondern in der Paralleltonart As-dur zu enden.

Die Sommermonate seit 1841 verbrachte Chopin regelmäßig auf dem Landsitz von George Sand in Nohant. Überwiegend stellten diese Aufenthalte eine Zeit der Ruhe und Ausgeglichenheit dar. So schrieb er an einen Freund: "Ich fühle mich ruhig und gelassen wie ein gewickeltes Kind." Es mag wohl diese Stimmung gewesen sein, die ihn im Sommer 1843 zu seiner bezaubernden Berceuse, op. 57, inspirierte. Ein zusätzlicher äußerlicher Anlaß war der Besuch der Sängerin Pauline Viardot mit ihrer kleinen Tochter auf dem Anwesen.

Die Ruhe drückt sich hier vor allem harmonisch und gestisch aus. Die eintaktige, wiegende Begleitfigur der linken Hand wird praktisch das gesamte Stück über beibehalten. Über ihr entfaltet sich eine viertaktige Melodie, die dann 14 mal variiert wird (weshalb das Stück vom Verleger auch zunächst als "Variationen" bezeichnet wurde). Das wahrhaft "einlullende" Tonika-Dominante-Schaukeln wird erst gegen Ende harmonisch leicht abgewandelt und verklingt schließlich im zarten Pianissimo.

Eine ähnlich wiegende Begleitfigur findet sich in der Barcarolle, op. 60. Hier jedoch ist diese Begleitung und deren Rhythmus durch das Genre bestimmt, einem Schifferlied der venetianischen Gondolieri. Auf den ersten Blick (oder vom ersten Höreindruck her) erscheint dieses Werk gelöst, wohlklingend (das Thema besteht aus zahlreichen Terzen und Sexten) und optimistisch. Erst bei näherer Betrachtung fällt auf, wie häufig melodische Linien abfallen, Steigerungen kaum jemals einen wirklichen Höhepunkt erreichen und im Mittelteil ein sehr geheimnisvoller und fast düsterer Farbton verwendet wird. Kaum hat sich eine Tonart etabliert, wird sie bereits nach wenigen Takten wieder in eine andere Richtung moduliert. Das Jahr 1846, in dem die Barcarolle entstand (Skizzen reichen bereits in den Sommer 1845 zurück), bereitete für Chopin zahlreiche Niederlagen. Seine Beziehung mit George Sand war kurz vor dem Bruch, seine Gesundheit verschlechterte sich zunehmend und er verfiel immer mehr in Zustände von Melancholie und Depression. Aus dieser Sicht erscheint das Werk trotz aller Leuchtkraft und Poesie eher als abgeklärte Retrospektive, als letztes Aufbäumen eines Menschen, der sich seit langem dem Tode geweiht sieht.

(Erik Reischl)