Franz Liszts Klavierwerke

(Text im Booklet zur CD "Erik Reischl spielt Liszt")

Die Entstehung der Trilogie "Années de Pèlerinage" von Franz Liszt ist ebenso langwierig wie bezeichnend für den Schaffensprozeß des Komponisten.
In den Jahren, die Liszt zusammen mit der Gräfin Marie d'Agoult in der Schweiz verbrachte, komponierte er eine Reihe von Stücken, die in den darauf folgenden Jahren vereinzelt veröffentlicht wurden und 1842 als "Album d'un voyageur" erschienen. Liszt hat diese Stücke vielfach umgearbeitet und neun davon erschienen 1855 im Schott-Verlag als "Années de Pèlerinage" mit dem Untertitel "Suisse". Drei Jahre später wurde ein zweiter Band veröffentlicht, in dem Liszt Eindrücke seiner Reisen in Italien verarbeitete. Der dritte Teil der "Années de Pèlerinage" umfaßt überwiegend religiöse Werke aus der Zeit seines Aufenthaltes in Rom, wo er die niederen Weihen eines Abbé empfing.
Les cloches de Genève("Die Glocken von Genf") schrieb Liszt zur Geburt seines ersten Kindes Blanche im Dezember 1835. Die Komposition stellt eine Verbindung von Glockengeläut und Wiegenlied her. Mit den in der Ferne verklingenden tiefen Glocken schließt Liszt den Zyklus "Schweiz" ab.

Über die Opernparaphrasen schreibt der Liszt-Biograph Everett Helm 1972:

"Von der Fantasie über Aubers Oper 'La Fiancee' aus dem Jahre 1829 bis zu seinen 'Réminiscences de Boccanegra' (Verdi) von 1882 hat Liszt eine fast unübersehbare Menge solcher Stücke geschrieben, die in der Qualität sehr unterschiedlich sind. Gewiß enthalten sie Triviales und sogar Vulgäres; andererseits sind sie im Durchschnitt viel besser als ihr Ruf. Die meisten wurden als brillante oder unterhaltende Vortragsstücke geschaffen, wie das Publikum sie verlangte. Liszt hat sie selber in einer Art und Weise vorgetragen, die man sich heute nicht vorzustellen vermag, ebensowenig wie man heute den Geschmack jener Periode nachempfinden kann."

Ähnlich wie beispielsweise die Ungarischen Rhapsodien stehen die Paraphrasen bis heute im Kreuzfeuer heftiger Kritik. Oft ist der Ansatzpunkt der Mißbilligung der angeblich rücksichtslose Umgang mit dem vorgegebenen, "gestohlenen" Material.
Die Rigoletto-Paraphrase von 1851 konnte sich dieser Kritik im großen und ganzen entziehen. Der Grund dafür ist die erstaunliche Plastizität, mit der Liszt die verschiedenen Ebenen dieses Gesangs-Quartetts zeichnet: Der leidenschaftliche Herzog in schwelgender Legato-Kantilene; die kecke Zigeunerin mit frechen Staccato-Passagen; die betrogene und verzweifelte Gilda und schließlich ihr nach Rache sinnender Vater.
Das brillante Werk hat sich - sicherlich zurecht - einen festen Platz im Repertoire der Pianisten und auf den Konzertpodien erobert.

Liszt schrieb in seinem Leben mehrere hundert Liedbearbeitungen, von denen er viele auch in seinen eigenen Soloabenden vortrug. Die meisten davon sind Schubert-Übertragungen, aber auch Schumann-, Chopin-, Beethoven-Bearbeitungen und sogar Transkriptionen seiner eigenen Werke sind zu finden. Zum Teil beschränkte sich Liszt auf die Einarbeitung der Singstimme in die vorhandene Klavierbegleitung. Mitunter jedoch erzielte er durch gezielte Anreicherung der ursprünglichen Vorlagen einen völlig neuen Klangcharakter.
Die Klavierfassung der "Loreley" von 1861 basiert auf einem Lied, das Liszt 20 Jahre zuvor komponierte. Das berühmte Gedicht von Heinrich Heine schildert die Legende der Jungfrau mit goldenem Haar, die durch ihren wundersamen Gesang die Schiffer auf dem Rhein verzückt. In die Höhe blickend zerschellen diese schließlich an den Felsen. Anders als bei dem bekannten Volkslied gestaltet Liszt jede Strophe gemäß ihres Inhalts auf andere musikalische Weise: Die Perspektive des Erzählers am Anfang und Schluß des Stückes ist rezitativisch gehalten, die Legende selbst reicht im Ausdrucksgehalt von wiegenden Melodien bis hin zu dramatischen Ausbrüchen.

Der Gnomenreigen ist eine von zwei Konzertetüden, die Liszt im Jahre 1862 für die Klavierschule von Lebert und Starck schrieb. Schon die Bezeichnung "Konzertetüde - Gnomenreigen" verweist einerseits auf ihre Bestimmung zum öffentlichen Vortrag und zeigt andererseits, daß im Vordergrund die programmatische Aussage steht. Somit stehen der Gnomenreigen - wie auch das Schwesterwerk "Waldesrauschen" - der Form des virtuosen Charakterstücks nahe.

"La Campanella" ("Das Glöckchen") gehört zu Liszts populärsten Werken. Sie ist eine der sechs "Großen Etüden von Paganini", erschienen im Jahre 1851. Fünf dieser Etüden sind Bearbeitungen von Paganinis Solo-Capricen op.1, die "Campanella" aber ist dem Thema des Rondos aus seinem 2. Violinkonzert entnommen.
Wie bei den Etudes d'exécution transcendante existiert auch hier eine frühere Fassung, die trotz (oder gerade wegen) ihrer enormen Schwierigkeiten etwas spröde klingt. Die Fassung von 1851 erweist sich demgegenüber als wesentlich raffinierter. In der abschließenden, ekstatischen Coda mit wilden Oktaven und Akkorden setzt Liszt dem legendären "Teufelsgeiger" Paganini gleichsam ein Denkmal.

Bezeichnend für Liszts Spätwerk ist die Kargheit der Mittel in Verbindung mit oft revolutionären Neuerungen - hauptsächlich im harmonischen Bereich. Die meisten Stücke sind sehr kurz gehalten und überaus ausdrucksstark. Ganz im Gegensatz zu den Werken seiner frühen und mittleren Periode spielen Virtuosität und Effekte praktisch keine Rolle mehr. Vielmehr ging es dem alten Abbé Liszt nach eigener Aussage darum, seinen "Speer in den unendlichen Raum der Zukunft zu werfen".
Das Nocturne "Schlaflos, Frage und Antwort" basiert auf einem Gedicht von Toni (Antonia) Raab, einer Schülerin Liszts. Leider ist das Gedicht verschollen, jedoch ist weniger der Inhalt als vielmehr der Titel Gegenstand des Stückes: Die wühlenden Arpeggien der linken Hand verkörpern Ruhelosigkeit, was auch durch eine insistierende doppeldeutige Harmonik unterstrichen wird. Der einstimmig deklamierten "Frage" folgt eine klar gegliederte und harmonisch eindeutige "Antwort".
Aufgrund ihrer gewagten Ganzton-Harmonik sind die Nuages gris ("Trübe Wolken") ein Meilenstein der Klavierliteratur. Die düstere Stimmung des Stückes weist bereits auf den Impressionismus eines Debussy oder Ravel voraus. Berühmt geworden ist es vor allem durch seine beiden offenen Schlußakkorde, die an Skrjabins Harmonik erinnern.
Sospiri! ("Seufzer") ist das letzte der 5 Klavierstücke aus dem Jahre 1879. Außer dem Namen bestehen jedoch kaum Ähnlichkeiten zu Liszts fast gleichnamiger "Etude de Concert" von 1848 "Un Sospiro". Seltsam mutet auch hier der offene Schluß in Form eines verminderten Septimakkords an.
Anfang des 20. Jahrhunderts plädierte Schönberg für die "Emanzipation der Dissonanz" und bahnte somit den Weg zur freien Atonalität. "Atonal" bedeutet jedoch nicht zwangsläufig Dissonanzenreichtum, sondern zunächst einmal "ohne Tonart" und die 1885 entstandene "Bagatelle ohne Tonart" ist in diesem Sinne zu verstehen. Die Harmonien dieses bizarren Werkes sind so angeordnet, daß sich nicht einmal abschnittsweise eine Tonart bestimmen läßt. Ursprünglich wurde die Komposition als "Vierter Mephisto-Walzer" komponiert. Jedoch ersetzte Liszt den Titel und schrieb einen weiteren "Mephisto-Walzer", der allerdings unvollendet blieb.

Obwohl sich Liszt nie zur Thematik der Ballade Nr.2 in h-moll geäußert hat, ist unüberhörbar, daß er sich durch den griechischen Mythos von Hero und Leander inspirieren ließ.
Das einleitende Haupt-Thema mit den auf- und absteigenden chromatischen Läufen symbolisiert Leander, der jeden Abend über den Hellespont schwimmt, um seine heimliche Geliebte, die Priesterin Hero zu besuchen. In der dritten Nacht schafft es Leander noch trotz der immer höher schlagenden Wellen, im Sturm der vierten Nacht jedoch kann er den Naturgewalten nicht mehr standhalten und ertrinkt. Anschließend erklingen stilisierte Totenglocken. Hier wird sich Hero bewußt, daß sie Leander verloren hat. Sie stürzt sich ins Meer und wird so wieder eins mit dem Geliebten.

(Erik Reischl)