Das Bleistift-Jenseits

eine nicht allzu ernste Geschichte von Erik Reischl

Heute morgen, 10:33 Uhr. Eine Standard-Situation. Ich bin beim Üben. Ein neuer Fingersatz fällt mir ein. Schnell den Bleistift genommen und ...

Nanu, wo ist er hin? Ich weiß ganz genau, daß er gestern noch da war! Genau hier, auf dem Notenpult. Merkwürdig... Naja, er wird wohl einfach nur hinter den Noten stecken... Wie, da ist er auch nicht? Ich fange langsam an zu zittern. Ich brauche diesen Bleistift - jetzt! Der Fingersatz ist gut! Der richtige, der einzig richtige! Nun, sei’s drum, dann hole ich eben einen neuen Bleistift... Ich gehe hinunter in mein Zimmer. Weder auf meinem Schreibtisch noch in dessen Nähe oder in einer anderen Ecke des Zimmers ist einer auffindbar. Wieso das? Hatte ich nicht gerade letzte Woche eine ganz neue Fünferpackung gekauft? Ich renne umher, suche verzweifelt weiter, stelle die ganze Wohnung auf den Kopf und muß nach einigen Minuten resigniert feststellen, daß a) kein Bleistift zu finden ist und ich b) den Fingersatz, den ich eben noch notieren wollte, bereits vergessen habe! Dabei war er ein Geistesblitz. Die Stelle, die die ganze Zeit nicht klappen wollte, der neue Fingersatz hätte alle Probleme gelöst. Ich fingere ein wenig in den Tasten herum in der Hoffnung, den Fingersatz doch wieder reproduzieren zu können. Ach, was bin ich doch hoffnungslos naiv. Selbstverständlich fällt er mir -nicht- ein.

Ich verfalle in Grübelei. Zu diesem Zeitpunkt habe ich das Alter von 28 Jahren erreicht. Wie oft kaufe ich Bleistifte? Ich würde sagen, etwa einmal im Monat. Ach nein, vielleicht doch eher alle zwei Monate, ich will nicht übertreiben. Keine Einzelstücke. Fünferpackungen. Seit wann tue ich das? Vielleicht seit meinem 16. Lebensjahr? Natürlich bereits früher, aber von einer konstanten Zuwachsrate kann man wohl erst seit diesem Zeitpunkt rechnen. 13 Jahre lang also kaufe ich sechsmal im Jahr 5 Bleistifte. Ich müßte also bereits annähernd 400 Bleistifte in meinem Leben gekauft haben. Vierhundert! Nun die Gegenprobe: Wieviele Bleistifte habe ich nach Beendigung der Lebensdauer entsorgt? Ich meine die kleinen Stummel, die nach endlosem Anspitzen übrig bleiben, üblicherweise mit fast intaktem Radiergummi (sofern vorhanden), weil man ja schließlich viel zu faul ist, eine Eintragung erst zu entfernen, bevor man die neue darüber schreibt. Die Antwort auf diese Frage lautet: Ich kann mich nicht einer einzigen Situation entsinnen, in der ich einen Bleistift weggeworfen hätte. Da sich in diesem Haushalt im Augenblick jedoch die stattliche Anzahl von genau Null Bleistiften befindet, stellt sich doch die alles entscheidende Frage: "Wo sind alle Bleistifte hin?".

Nun muß ich wohl zuerst einmal klarstellen, daß ich überzeugter Atheist bin und auch allen sonstigen unerklärlichen Phänomenen mit gesundem, wissenschaftlichem Geist gegenüberstehe. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, nicht an einen Gott, einen Himmel oder eine Hölle. Kurzum, es gibt kein Jenseits.

Nunja, für Menschen jedenfalls... für Bleistifte mag das ganz anders aussehen. Haben diese heimtückischen kleinen Biester vielleicht doch eine Seele? Ja, so muß es sein. Ein Bleistift hat seine ganz eigene Persönlichkeit. Wenn er längere Zeit nicht benutzt wird, verfällt er in Depressionen und begeht Suizid. Irgendwo muß es ein besonderes Jenseits geben, in das sämtliche Bleistifte kommen, die entweder fast verbraucht sind oder auf tragische Art und Weise verloren wurden. Es gibt keine andere Erklärung. Des Nachts, wenn sie unbeobachtet sind, vaporisieren sie einfach. Und dabei ist es offenbar gänzlich belanglos, welche Rest-Länge dieses unverzichtbare Zeichengerät besitzt. Dies zeigt eindrucksvoll das oben erwähnte Beispiel, hatte doch mein Bleistift die immerhin noch stattliche Länge von 7,63 Zentimetern. Ja, da wird er wohl jetzt sein, mein Bleistift, im Jenseits. Mein dunkelrot lackierter Standard-HB-Bleistift. Mit Radiergummi. Wenigstens den hätte er doch dalassen können. Ob er nun glücklich ist? Was muß das für ein Gefühl sein, seine Kameraden aus den Kaufhausregalen wieder zu treffen. Sie erzählen sich Geschichten, jeder hat viel erlebt. Was können Bleistifte nicht alles erleben. Geistesblitze notieren, vielleicht eine wissenschaftliche Formel, die später dem Verfasser einen Nobelpreis einbringt. Dagegen sind Fingersätze eines Pianisten sicher nur von geringer Bedeutung. Aber für mich war er nun mal wichtig, zum Kuckuk!

Während meine Finger langsam wieder beginnen, sich auf den Tasten zu bewegen, kreisen meine Gedanken noch lange um das Bleistift-Jenseits. Ich kann mich nicht konzentrieren. Mir schwirren Sätze durch den Kopf wie "Mein Stift, warum hast Du mich verlassen?". Der Bleistift wird mit Sicherheit nie wieder auzufinden sein. Ebenso wird der noch eben präsente Fingersatz in den verworrenen Windungen meines Gehirns auf ewig verschollen bleiben. Bald ist Weihnachten. Vielleicht wünsche ich mir eine Packung Bleistifte!

(c) 2001 Erik Reischl