Debussy: Ariettes oubliées

(Text im Booklet zur CD "Portrait Erik Reischl, Volume 4")

Paul Verlaines Gedichtzyklus „Romances sans paroles“ entstand im Jahre 1874, in der Zeit des gemeinsamen Vagabundenlebens mit dem jungen Dichter Jean-Arthur Rimbaud. Der Symbolismus, der für den Großteil seines Schaffens prägend ist, zeigt sich hier erstmals in deutlicher Ausprägung. Das Wort wird zur Musik, zu Tönen und Farben in feinsten Abstufungen und Schattierungen.

Mit der Vertonung zweier Gedichte dieser Sammlung begann Debussy im Januar 1885 seine Arbeit an seinem ersten Liederzyklus, nachdem ihn gerade die musikalische Qualität der Verlainschen Poesie zuvor bereits mehrfach zu Liedkompositionen inspiriert hatte.

Nur wenige Tage später begab sich der junge Komponist nach Rom, um einen dreijährigen Aufenthalt in der Villa Medici anzutreten, der mit dem Gewinn des „Premier Grand Prix de Rome“ für seine Kantate „L’Enfant prodigue“ verbunden war.

Die Trennung von Madame Vasnier, für die er bislang fast alle seine Lieder geschrieben hatte, sowie die Abwesenheit von seiner geliebten Stadt Paris fielen ihm schwer. Der Zyklus, dessen restliche vier Lieder in der Zeit zwischen 1885 und 1888 entstanden, war vermutlich als eine Art Geschenk an Madame Vasnier nach seiner Rückkehr gedacht.

Erstmalig erschienen die Lieder einzeln im Jahre 1888, jeweils unter dem Titel „Ariettes“. Ein Exemplar der Erstausgabe ließ Debussy Mme Vasnier mit handschriftlicher Widmung zukommen. Die endgültige Zueignung nahm er erst für die zweite Auflage vor, die im Jahr 1903 erschien, diesmal unter dem endgültigen Titel „Ariettes oubliées“, in revidierter Form und als einheitlicher Zyklus. Aus aktuellem Anlaß war die Widmungsempfängerin jedoch die Sopranistin Miss Mary Garden, welche zuvor die Mélisande in der Uraufführung von Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ verkörpert hatte.

In den Ariettes oubliées lehnt sich die Musik erstmalig völlig an die Vorgaben der Dichtung an. Textwiederholungen, wie sie noch in früheren Stücken der Vasnier-Lieder vorkamen, sind nicht mehr vorhanden. Auch weicht der bisherige melismatische Stil einer fast komplett syllabischen Kompositionsweise, d.h. jeder Silbe wird genau eine Note zugeordnet. Auch formal richtet Debussy die Struktur seiner Lieder an Inhalt und Aufbau der jeweiligen Dichtung aus, wodurch sich beispielsweise in „Il pleure dans mon cœur“ ein bemerkenswertes Ungleichgewicht der Formteile ergibt, welches jedoch durch den gedanklichen Aufbau der Textvorlage bedingt ist. Häufig setzt Debussy an inhaltlich bedeutenden Stellen den Fokus durch rezitativische Techniken („Quoi! nulle trahison?“) oder die bloße Deklamation einer Zeile in nur einer einzigen Tonhöhe (zu Beginn von „Spleen“) ganz deutlich auf den textlichen Inhalt.

Indem Debussy die Musik nun ganz in den Dienst des Wortes stellt, gelingt ihm eine musikalische Analogie zu Verlaines Postulat.

(Erik Reischl)