Claude Debussy: Préludes

(Text im Booklet zur CD "Portrait Erik Reischl, Volume 1")

Auch Debussy schrieb insgesamt 24 Préludes für Klavier, in zwei Heften, komponiert in den Jahren 1909-1912. Allerdings werden zum einen nicht alle Tonarten genau einmal präsentiert und zum anderen ist jedes Stück mit einem Titel versehen.

Debussy setzte diese "Titel" jedoch an das Ende der Stücke. Dieser Umstand macht seine Préludes zu einer Mischung aus dem traditionellen Typus der sog. "absoluten Musik" (dem die Préludes von Chopin und Rachmaninoff zuzuordnen sind) und einer bildhaften, ja fast programmatisch motivierten Musik. Nur werden keine Vorgänge, Personen oder Gegenstände "beschrieben", sondern die Titel sollen die Inspirationen des Komponisten erläutern, ohne das dargestellte selbst dabei in den Vordergrund zu rücken und ohne die Einstellung des Zuhörers vorher zu beeinflussen. Die Musik läßt also absichtlich eine Vielzahl von Deutungen zu, weil sie selbst niemals reale Abbildung und Beschreibung sein will, sondern durch subjektive Eindrücke des Komponisten entstanden ist. Man kann folglich die These wagen, daß dies ein Merkmal des musikalischen Impressionismus ist, dem man Debussy allgemein zuordnet. Allerdings sprach sich dieser selbst in späten Jahren gegen eine solche Bezeichnung aus.

Meine folgenden Erläuterungen sind also nicht dazu geeignet, den Inhalt der Préludes zu beschreiben, sondern sollen die Titel näher beleuchten, die Debussy den Stücken folgen ließ.

Man kann feststellen, daß sich die Inspirationen zu den Préludes in verschiedene Kategorien einteilen lassen.

Da wäre zunächst das Gebiet der Mythologie und der Sagen, von dem Debussy zeit seines Lebens gefesselt war. In den Préludes auf dieser CD finden sich zwei solcher Werke. Das erste ist "Danseuses de Delphes" (Die Tänzerinnen von Delphi), welches wie ein sakraler Tanz der Priesterinnen um das Orakel erscheint, umgeben von Schleiern aus Stoff, Rauch und Nebel. Debussy war zwar selbst nie in Griechenland, aber wahrscheinlich hat er eine solche Szene auf einer antiken Vase im Louvre gesehen.

Das zweite, "La cathédrale engloutie" (Die versunkene Kathedrale) ist wesentlich konkreter. Es beschreibt die im Meer versunkene Stadt "Ys", die der Sage nach manchmal in den frühen Morgenstunden majestätisch aufsteigt. Die Sonne vergoldet ihre Kuppeln, aus der großen Kathedrale erklingt Orgelmusik, aber schon nach wenigen Augenblicken versinkt alles wieder in den Tiefen der See.

Die Préludes "Minstrels", "General Lavine - Excentric" und "La fille aux cheveux de lin" (Das Mädchen mit den Flachshaaren) haben eines gemeinsam: Sie alle sind Portraits bestimmter Personen oder Gruppen.

Die beiden erstgenannten zeigen Debussy von einer seltenen, humorvollen, gar clownesken Seite. Bei den Minstrels handelt es sich um eine Art musikalischer Clown-Gruppen, die in amerikanischen Music Halls auftraten und Sketche schwarzer Sklaven imitierten.

General Edward Lavine wiederum war eine Berühmtheit der Revuetheater um 1910, halb Clown, halb Offizier, der das Soldatenleben karikierte.

Die Identität des Mädchens, dem Debussy durch sein wohl berühmtestes Prélude zur Unsterblichkeit verhalf, war lange unklar. Zunächst nahm man an, es handele sich um eine irische oder englische Schönheit, die Debussy auf einem Gemälde sah, wahrscheinlich ist die Inspirationsquelle jedoch ein Gedicht von Leconte de Lisle, in dem folgende Zeilen zu lesen sind:

Wer singt schon so früh am Morgen
sitzend im blühenden Klee?
Das ist das Mädchen mit den Flachshaaren,
die Schöne mit den Kirschenlippen.

Hinter dem harmlosen Titel "Des pas sur la neige" (Schritte im Schnee) verbirgt sich eines der für mich erschütterndsten Werke Debussys. Mit nur spärlichen Mitteln vermittelt der Komponist den Eindruck von Öde, Kälte, Verzweiflung, Tod, Bedauern, Ermattung und Hoffnungslosigkeit. Hier bekommt die reine Landschafts-Beschreibung eine menschliche, tragische Dimension. Vielleicht ist es ein Wanderer, erschöpft und dem Ende nahe, der diese Schritte hinterlassen hat? Vielleicht erzählen diese Schritte aber auch eine völlig andere Geschichte. Dies liegt, wie gesagt, im Ermessen des Hörers.

Eine Ansichtskarte Manuel de Fallas, ein mit Debussy befreundeter spanischer Komponist, gab den Anstoß zu "La puerta del vino" (Das Tor des Weins). Gemeint ist ein Tor aus dem 13. Jahrhundert, das auf der Alhambra in Granada zu sehen ist und auf der Karte abgebildet war. Das Stück in Form einer Habanera lebt von den großen Kontrasten zwischen lauten, fast brutalen Einwürfen und dem sanften Kontinuum der begleitenden Quinten.

Den grandiosen Schlußpunkt aller 24 Préludes bildet "Feux d'artifice", welches das Feuerwerk am französischen Nationalfeiertag schildert. Kaum ein anderes Werk Debussys ist derart hochvirtuos und brilliant. Die Farbenpracht des Feuerwerks wird zur grandiosen akustischen Pracht, mit funkelnden Läufen, Arpeggien, Akzenten und Tremoli. Und plötzlich fällt alles in gewaltigem Donner zusammen, es folgen ein paar Nachzügler, und schließlich hört man nur noch in der Ferne ein leichtes Grollen und darüber ein paar Bruchstücke der "Marseillaise".

(Erik Reischl)