Ein Märchen |
Es war einmal, vor langer, langer Zeit ein kleiner Junge,
dessen Eltern hatten einen braunen Stutzflügel der Marke
"Kreuzbach" im Wohnzimmer stehen.
Schon als kleines Kind war er stets auf der Suche nach neuen
Entdeckungen, die diese so faszinierende Welt zu bieten hatte. So
ungefähr mit zwei Jahren galt seine größte Liebe eben diesem
braunen Faszinosum, mit dessen Tasten man ungewöhnlich viel
verschiedene Klänge produzieren konnte. Die reichten vom piano
eines einzelnen Tones bis hin zu Clustern, die im kräftigsten
Anschlag mit den Fäusten hervorgebracht werden konnten.
Mit einem Wort, der kleine Junge saß also bald stundenlang an
diesem Flügel und malträtierte ihn auf unsägliche Weise.
Immerhin muß man seinen damaligen Klangkompositionen eine
gewisse Ähnlichkeit zu den Werken Schönbergs und Stockhausens
anerkennen. Auch waren gewisse Elemente der Musik Xenakis in
seinem Spiel erkennbar.
Nun aber kann man sich natürlich vorstellen, daß solcherlei
Musik in diesem zeitlichen Ausmaß nicht gerade zur Erbauung
seiner Eltern beitrug. So ersannen sie sich nach einiger Zeit die
List, dem kleinen Jungen doch zu erklären: "Das Klavier ist
jetzt müde und muß heia machen". Da der kleine Junge meist
recht artig und folgsam war, stieg er in diesem Fall also stets
von dem viel zu hohen Klavierhocker herab, um dann sorgfältig
den Deckel der Tastatur zu schließen, auf daß sich der Flügel
nun zur wohlverdienten Ruhe begeben möge. Zumeist gewährte er
dem Instrument jedoch nur eine klägliche Pause von etwa fünf
bis zehn Sekunden, woraufhin er sofort wieder den Hocker erklomm
und mit den Worten "Kavier bielen!" (soll heißen
"Klavier spielen") den Deckel ergriff, ihn öffnete und
dem abenteuerlichen Gerät erneut schauerliche Töne entlockte.
Diese Phase währte - in mehr oder weniger starker Ausprägung - bis zu seinem sechsten Lebensjahr, genauer gesagt, bis einige Monate vor seinem sechsten Geburtstag. Da kamen seine Eltern auf ihn zu und fragten ihn - um dem Dilemma nun endgültig Herr zu werden - ob er nicht Lust habe, die Tätigkeit, die ihm offensichtlich so große Freude bereitete, nun auf eine solidere Basis zu stellen: Kurz, sie baten ihm an, Klavierunterricht zu nehmen. Der Junge bejahte dies natürlich freudestrahlend, und so erhielt er dann im Frühsommer 1979 seine ersten Klavierstunden.
Nun könnte diese Geschichte ja eigentlich den gewohnten Lauf eines Pianisten nehmen, wenn sich einige Jahre später nicht ein einschneidendes Erlebnis im Leben des Jungen ergeben hätte. Denn als er eines Tages den Sylvesterabend bei seiner Großmutter in Bamberg verbrachte, nahm ihn diese erstmals zum traditionellen Symphoniekonzert der Bamberger Symphoniker mit. Jedes Jahr wird dort zum Jahresende Beethovens Neunte Symphonie gespielt. Zunächst begriff der kleine Junge nicht, warum sich inmitten der vielen fleißigen und beflissenen Musiker vier weitere Personen befanden, die offensichtlich nichts zum Gelingen des Konzertes beitragen wollten oder durften. Daß dies die Solisten waren, wurde ihm erst im letzten Satz klar. Aber das war für ihn ohnehin nicht von Interesse, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Dirigenten, der da wild umherfuchtelte, Posen und Gesten zur Schau stellte, und damit offensichtlich sowohl das Publikum als auch das Orchester beeindruckte. Vielleicht war es die Klangfülle des Schlußsatzes, die den kleinen Jungen begeisterte, vielleicht die ungeheure Macht, die der Dirigent über das Orchester ausübte, vielleicht auch die Ehre, die ihm nebst Solisten, Chor und Orchester am Schluß zuteil wurde, auf jeden Fall quittierte der kleine Junge das Konzert mit frenetischem Applaus und dem Urteil "saustark!" wenige Stunden später Zuhause am Telefon im Gespräch mit seiner Mutter. Der kleine Junge beschloß, Dirigent zu werden.
Die Eltern, beide übrigens Sänger, unterstützen von nun an diese Entscheidung. Zunächst mußten weitere Instrumente gelernt werden. Da bot sich natürlich an erster Stelle die Violine an, und um dann auch ein Blasinstrument kennengelernt zu haben, wurde der Junge später auch eine Zeitlang im Horn unterwiesen.
So zog die Zeit ins Land, der Junge wurde älter und schließlich als siebzehnjähriger als Jungstudent im Fach Dirigieren in einer Musikhochschule aufgenommen. Nach dem Abitur zwei Jahre später dann erhielt der den Status des Vollstudenten, und die Geschichte hätte nun eigentlich den gewohnten Lauf eines Dirigenten nehmen können, wenn, ja wenn sich einige Jahre später nicht ein weiteres einschneidendes Erlebnis im Leben dieses jungen Musikers ergeben hätte. Natürlich war wieder das Klavier schuld.
Trotz der Dirigier-, Violin-, und Hornstudien hatte der Junge nämlich sein geliebtes Klavier nie vergessen oder gar vernachlässigt. Im Gegenteil, seine Ausbildung trug Früchte, er nahm an Jugendwettbewerben erfolgreich teil, gab Konzerte, entwickelte sich weiter.
Da kam im Frühjahr 1993 der Punkt, an dem er erstmals an
einem internationalen Klavierwettbewerb teilnehmen sollte. Dieser
Wettbewerb umfaßte drei Runden, und der Junge war so
vorausschauend, sein Rückflugticket bereits vor dem Finale zu
buchen, damit er im Falle des Ausscheidens, das er für sicher
annahm, keine unnötige Zeit verschwenden und Kosten verursachen
möge.
Die erste Runde lief gut, er war zufrieden, suchte dennoch seinen
Namen auf der Liste der Ergebnisse, die nach Punkten geordnet
war, zuerst einmal ganz unten. Zu seinem Erstaunen konnte er ihn
aber nicht finden, bis seine Blicke langsam immer höher und
höher schweiften und er ungläubig seinen Namen auf Rang 3 fand.
Dennoch stand für ihn fest, daß er das Finale niemals würde
erreichen können, nahm er diese Tatsache also einfach als
gegeben hin, freute sich und spielte in der zweiten Runde ohne
Scheu, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Und was er nie für
möglich gehalten hatte und auch gar nicht beabsichtigt hatte,
wurde Wirklichkeit. Noch am nächsten Tag mußte der Junge sein
Ticket umbuchen und sich nach einem neuen Hotelzimmer umsehen...
Nun, nachdem sich der Junge daraufhin entschied, die Dirigierlaufbahn bis auf weiteres nicht weiter zu verfolgen, schrieb er sich an einer anderen Hochschule im Fach Klavier ein, um sich fortan nur noch der Entwicklung seiner Karriere als Pianist zu widmen.
Und von nun an kann die Geschichte eben doch wieder ihren gewohnten Lauf nehmen!