Sergej Rachmaninoff: Préludes und Etudes-Tableaux

(Text im Booklet zur CD "Portrait Erik Reischl, Volume 1")

"In meinen Kompositionen habe ich niemals bewußt Anstrengungen unternommen, originell, romantisch, nationalistisch oder irgendetwas anderes zu sein. Ich schreibe einfach die Musik nieder, die ich in mir selbst höre, und zwar so natürlich wie möglich. Ich bin ein russischer Komponist, und das Land meiner Geburt hat mein Temperament und meine Lebensanschauung beeinflußt. Beim Niederschreiben meiner Musik versuche ich ständig, so einfach und direkt wie möglich das zu sagen, was in meinem Herzen liegt, während ich komponiere."

Diese Aussage Rachmaninoffs stellt seine Verteidigung gegenüber einem Vorwurf dar, dem er sich zeitlebens ausgesetzt sah: Er sei rückständig, seine Kompositionen seien oberflächliche Filmmusik und kitschige Salonmusik. Zwar trifft es zu, daß seine Musik, verglichen mit der seiner Zeitgenossen wie Strawinsky oder Schönberg, eine tief romantische, tonale und in gewissem Maße auch anachronistische ist. Doch diese "gefühlvolle Jauche", wie sie beispielsweise Richard Strauss verächtlich beschrieb, entspringt erstens der ehrlichen Gefühlslage Rachmaninoffs und verkennt zweitens den doch beachtlich hohen Grad an künstlerischer und kompositionstechnischer Qualität. Das Beispiel Rachmaninoff zeigt wie kaum ein anderes, wie sehr sich in der Musik über Geschmack streiten läßt. Auch heute noch gibt es sowohl ausgesprochene Rachmaninoff-Gegner als auch fanatische Liebhaber seiner Werke.

Eines der auf dieser CD vorliegenden Préludes hat Rachmaninoff als 19jährigen mit einem Schlag weltberühmt gemacht - und tragischerweise viel zum Mißverständnis seiner Musik beigetragen. Es ist das Prélude in cis-moll, das zweite der "Cinq Morceaux de Fantaisie" op.3. Seitdem wurde Rachmaninoff sofort und generell mit diesem Stück assoziiert, und die vielfachen (teilweise schrecklichen!) Bearbeitungen, der immer wiederkehrende Ruf der Massen in den Konzerten nach ihrem Lieblingsstück, die von Verlegern eigenmächtig hinzugefügten Titel wie "Der Brand von Moskau" oder "Das jüngste Gericht" sowie der Gebrauch als Stummfilm-Musik zu tragischen oder monströsen Szenen trugen das ihre dazu bei, daß sich der Komponist bald weigerte, das Stück weiter öffentlich vorzutragen.

Aus dieser Sicht ist es um so erstaunlicher - und erfreulicher - daß Rachmaninoff gut 10 Jahre später 10 weitere Préludes folgen ließ (seinem Lehrer und Vetter Siloti gewidmet) und im Jahre 1910 mit den 13 Préludes op.32 zu einer Sammlung von 24 Stücken in allen Dur- und Molltonarten komplettierte. Solche Zyklen schrieben zuvor bereits Chopin und Skrjabin nach dem Vorbild J.S. Bachs, dessen "Wohltemperiertes Klavier" eines der bedeutendsten Werke für Klavier ist.

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß op.32 in weniger als zwei Wochen komponiert wurde!

Mit dem folgenden Opus, den Etudes-Tableaux op.33 tat sich Rachmaninoff wesentlich schwerer, zumindest was die Veröffentlichung anlangt. Hierbei strich er von den ursprünglichen neun Stücken die Nummern 3, 4 und 5, arbeitete das vierte jedoch später um und integrierte es als Nr.6 in sein op.39. Posthum wurden dann Nr.3 und 5 publiziert (ob dies im Sinne des Komponisten war, sei dahingestellt), und dies erklärt, warum das hier eingespielte Etude-Tableau in g-moll sowohl als op.33 Nr.7 als auch als Nr.8 bekannt ist.

Der Begriff "Etude-Tableau" ist eine Schöpfung Rachmaninoffs (und meines Wissens hat kein anderer ihn jemals nach ihm benutzt). Er deutet die poetische Dimension an, die diesen Werken zugrunde liegt. Nicht Studien sind es, sondern - wie die Etüden Chopins - Vortragsstücke mit enormen technischen Ansprüchen. Der Unterschied besteht in der Inspiration, die bei Rachmaninoffs Etüden durch Bilder hervorgerufen wurden. Leider liegen keine gesicherten Kenntnisse vor, um welche konkreten Werke es sich handelte.

Das Schwesterwerk, die Etudes-Tableaux op.39, zeigt bereits deutliche Einflüsse des Freundes Alexander Skrjabin, welcher auch Etüden für den Konzert-Gebrauch schrieb. Möglicherweise ist dessen Tod im Jahre 1915 die Erklärung dafür, daß sich in fast jedem dieser Stücke Zitate oder zumindest Andeutungen des Themas "Dies Irae" finden.

(Erik Reischl)